Wie kann ich meinen inneren Kritiker loswerden? Wenn Sie sich das auch schon gefragt haben, sollten Sie kennenlernen, was Christine Neff über Selbstmitgefühl herausgefunden hat. Sie, die Pionierin in diesem Forschungsgebiet, versteht unter Selbstmitgefühl die Praxis unseren “inneren Kritiker” zu beruhigen und durch eine Stimme der Unterstützung, des Verständnisses und der Fürsorge für sich selbst zu ersetzen.
Die Art, wie wir uns selbst sehen ist nicht selbstverständlich gegeben, sondern, wie alle anderen Beziehungen auch, ein Ergebnis unserer Lebenserfahrung und unserer Kultur. Eine gute Beziehung zu sich selbst heißt nicht, dass ich mich mit einer rosaroten Brille betrachte und meine eigenen Schwächen ausblende, sondern das ich mit mit meinen Schwächen und Unvollkommenheiten akzeptiere. Nur wenn ich meine eigenen Unvollkommenheiten akzeptiere, kann ich auch Unvollkommenheiten bei anderen akzeptieren. Ein innerer strenger Kritiker mir selbst gegenüber ist auch aktiv, wenn ich andere Menschen betrachte.
Dies ist für viele Menschen ein erstaunlicher Gedanke. Wir fürchten eher die Vorstellung, die Zügel uns selbst gegenüber zu lockern. Welcher Schwächling, Faulpelz, Jammerlappen oder Wutteufel würde dann hervorkommen?
Bei vielen Menschen gibt es eine abwertende innere Stimme, wenn sie traurig sind, weil etwas nicht so geklappt hat, wie sie es sich vorgestellt haben. Sie macht die Situation schlimmer. Wie wäre es, wenn wir stattdessen eine innere Stimme hätten, die so mit uns spricht, wie wir mit einer nahestehenden Freundin oder einem geliebten Menschen sprechen würden, der etwas ähnliches erlebt? Das ist die Empfehlung von Christine Neff.
Selbstmitgefühl ist charakterisiert durch:
Freundlichkeit: sich selbst gegenüber im Leiden so freundlich zu sein, wie wir das Freunden gegenüber sind, denen es schlecht geht. Wenn wir gescheitert sind oder uns unzulänglich fühlen, sollten wir uns selbst gegenüber verständnisvoll sein und uns nicht mit Selbstkritik weiter abwerten.
Menschlichkeit: Erkennen, dass Leiden zum menschlichen Leben gehört. Wir sind nicht die einzigen Leidenden auf der Welt, sondern es gibt Millionen von Menschen, die mit etwas Ähnlichem konfrontiert sind, was uns gerade schmerzt. Wir sind nicht die Einzigen. Die eigentliche Definition von “Mensch sein” bedeutet, unvollkommen zu sein, verwundbar und sterblich.
Aufmerksam wahrnehmen: es geht weder darum, das eigene Leiden zu verdrängen, noch sich darin “zu baden”. Stattdessen geht es darum, den eigenen Schmerz wahrzunehmen und zu fühlen, wie er ist. Wenn wir eine Verbindung zwischen unserer schmerzlichen Erfahrung und dem Leid anderer Menschen erkennen, finden wir das Gleichgewicht, das nicht mehr ausblendet, sondern im Gegenteil sich öffnet für das was da ist, einschließlich des eigenen Leids.
Letzte Woche habe ich mein Smartphone im Hauptbahnhof fallen lassen. Wenig Selbstmitgefühl führt eher dazu, dass ich mich selbst beschimpfe, wie tollpatschig und unvorsichtig ich mal wieder bin – eine Selbstabwertung, zusätzlich zu dem Missgeschick. Würde ich so zu einer Freundin sprechen, wenn ihr das gleiche passiert? Oder zu einer anderen Person, die mir am Herzen liegt? Wahrscheinlich nicht.
Wenn Sie Ihr Selbstmitgefühl stärken wollen, stellen Sie sich am besten die Frage: “Wie würde ich mit einem Freund umgehen?” Holen Sie sich was zu schreiben und beantworten Sie die folgenden Fragen:
- Denken Sie an Zeiten, in denen ein enger Freund nicht mit sich selbst klar kam und er oder sie mit sich gekämpft hat. Wie würden Sie darauf reagieren (besonders wenn es Ihnen gerade sehr gut geht)? Schreiben Sie bitte auf, was Sie tun und sagen würden. Achten sie auf den Ton in dem Sie dabei mit Ihrem Freund sprechen.
- Jetzt denken Sie an Zeiten, in denen Sie mit sich selbst nicht klar kamen und mit sich gekämpft haben. Wie reagieren Sie üblicherweise dann auf sich? Schreiben Sie auf, was Sie dann tun, denken und sagen und achten Sie auf den Ton, in dem Sie mit sich sprechen.
- Haben Sie einen Unterschied bemerkt? Falls ja, fragen Sie sich, warum. Welche Faktoren oder Ängste führen dazu, dass Sie sich selbst und andere so unterschiedlich behandeln?
- Bitte schreiben Sie auf, was sich in Ihrem Leben verändern würde, wenn Sie üblicherweise freundlich zu sich wären. Wenn Sie einen Fehler machen oder Ihnen ein Unglück widerfährt, würden Sie dann so mit sich selbst umgehen, wie Sie das mit einem Freund tun?
Warum behandeln Sie sich nicht wie einen guten Freund und schaun mal, was passiert?
Selbstmitgefühl heißt wahrzunehmen, was uns gerade passiert. Egal, ob es angenehm oder unangenehm ist. Es geht darum zu bemerken, wenn wir uns Druck machen oder wenn wir uns selbst beschimpfen. Das ein Signal dafür, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: was würde ich einer lieben Freundin in so einer Situation sagen?
Aus unseren engen Beziehungen wissen wir genau, dass es schädlich ist, Menschen Vorwürfe zu machen, die gerade leiden. Das macht es schlimmer, nicht besser. Menschen in schwierigen Situationen brauchen Verständnis und Trost, auch wenn die Ursache des Dilemmas vielleicht selbst verschuldet ist.
Keine Angst, Selbstmitleid ist etwas ganz anderes. Selbstmitleid vergrößert eigene Leiden. Andere Menschen mit ihren Erfahrungen geraten aus dem Blickfeld. Selbstmitgefühl hält andere Menschen mit ihren Erfahrungen im Blickfeld. Und nicht nur das: es führt auch zu einem gut ausgeprägten Selbstwertgefühl und größerer Bereitschaft, sich die Verantwortung für eigenes Scheitern einzugestehen.
Der Unterschied zwischen Selbstmitgefühl und Selbstmitleid liegt darin, dass der Selbstmitleidige auf sein eigenes Leid konzentriert bleibt, sich nur dafür interessiert und für alles andere weitgehend verschließt. Selbstmitleid führt deshalb zu Gefühlen von Isolation und abgetrennt Sein von den anderen.
Die Alternative zu Selbstmitleid ist nicht, gegen emotionalen Schmerz anzukämpfen. Wenn wir das versuchen, bleiben wir darin gefangen; er wird zur Falle. Die Alternative zu Selbstmitleid ist, die Perspektive eines mitfühlenden Anderen sich selbst gegenüber einzunehmen. Dadurch schaffst du den Raum, Zusammenhänge zu sehen und die Dinge in eine größere Perspektive zu rücken. Anstatt uns selbst anzuklagen, zu kritisieren und zu versuchen, uns in Ordnung zu bringen (oder andere oder die ganze Welt), könnten wir anfangen, uns selbst anzunehmen.
Das Mitgefühl und die Liebe, die du dir selbst entgegenbringst, sind das Fundament der Liebe und des Mitgefühls für andere. Es ist doch logisch, dass wir keine Empathie für andere haben können, wenn wir die gleichen Gefühle – Verzweiflung, Angst, Versagen, Scham – bei uns selbst nicht tolerieren. Und wie können wir anderen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken, wenn wir völlig von unseren eigenen inneren Kämpfen in Anspruch genommen sind? Erst wenn wir mit unseren eigenen Problemen wieder umgehen können, können wir unsere liebevolle Zuwendung auf andere ausdehnen, was wiederum zur Verbesserung unserer Beziehungen und zur allgemeinen Lebenszufriedenheit beiträgt.
Quellen
Christopher Germer: Der achtsame Weg zur Selbstliebe, Freiburg, 2010
www.self-compassion.org
Breines, J., & Chen, S. (2013). Activating the inner caregiver: The role of support-giving schemas in increasing state self-compassion. Journal of Experimental Social Psychology, 49, 58-64.: Teilnehmer, die sich an eine Zeit erinnerten, in der sie einen Freund emotional unterstützten … berichteten über mehr Selbstmitgefühl in Bezug auf ein Problem, das sie beschäftigte, als Teilnehmer die nicht über die Unterstützung von Freunden nachdachten. – Übersetzt aus Greater Good.