Spiegelbild einer Frau in Herbstfarben

Selbstmitgefühl – nicht nur erlaubt, sondern empfohlen

Aktualisiert am 3. September 2023

Wie kann ich meinen inneren Kritiker loswerden? Wenn du dich das auch schon gefragt hast, solltest du kennenlernen, was Christine Neff über Selbstmitgefühl herausgefunden hat. Sie, die Pionierin in diesem Forschungsgebiet, versteht unter Selbstmitgefühl die Praxis unseren “inneren Kritiker” zu beruhigen und durch eine Stimme der Unterstützung, des Verständnisses und der Fürsorge für sich selbst zu ersetzen.

Die Art, wie wir uns selbst sehen ist nicht selbstverständlich gegeben, sondern, wie alle anderen Beziehungen auch, ein Ergebnis unserer Lebenserfahrung und unserer Kultur. Eine gute Beziehung zu sich selbst heißt nicht, dass ich mich mit einer rosaroten Brille betrachte und meine eigenen Schwächen ausblende, sondern das ich mit mit meinen Schwächen und Unvollkommenheiten akzeptiere. Nur wenn ich meine eigenen Unvollkommenheiten akzeptiere, kann ich auch Unvollkommenheiten bei anderen akzeptieren. Ein innerer strenger Kritiker mir selbst gegenüber ist auch aktiv, wenn ich andere Menschen betrachte.

Dies ist für viele Menschen ein erstaunlicher Gedanke. Wir fürchten eher die Vorstellung, die Zügel uns selbst gegenüber zu lockern. Welcher Schwächling, Faulpelz, Jammerlappen oder Wutteufel würde dann hervorkommen?
Bei vielen Menschen gibt es eine abwertende innere Stimme, wenn sie traurig sind, weil etwas nicht so geklappt hat, wie sie es sich vorgestellt haben. Sie macht die Situation schlimmer. Wie wäre es, wenn wir stattdessen eine innere Stimme hätten, die so mit uns spricht, wie wir mit einer nahestehenden Freundin oder einem geliebten Menschen sprechen würden, der etwas ähnliches erlebt? Das ist die Empfehlung von Christine Neff.

Selbstmitgefühl ist charakterisiert durch:

Freundlichkeit: sich selbst gegenüber im Leiden so freundlich zu sein, wie wir das Freunden gegenüber sind, denen es schlecht geht. Wenn wir gescheitert sind oder uns unzulänglich fühlen, sollten wir uns selbst gegenüber verständnisvoll sein und uns nicht mit Selbstkritik weiter abwerten.
Menschlichkeit: Erkennen, dass Leiden zum menschlichen Leben gehört. Wir sind nicht die einzigen Leidenden auf der Welt, sondern es gibt Millionen von Menschen, die mit etwas Ähnlichem konfrontiert sind, was uns gerade schmerzt. Wir sind nicht die Einzigen. Die eigentliche Definition von “Mensch sein” bedeutet, unvollkommen zu sein, verwundbar und sterblich.
Aufmerksam wahrnehmen: es geht weder darum, das eigene Leiden zu verdrängen, noch sich darin “zu baden”. Stattdessen geht es darum, den eigenen Schmerz wahrzunehmen und zu fühlen, wie er ist. Wenn wir eine Verbindung zwischen unserer schmerzlichen Erfahrung und dem Leid anderer Menschen erkennen, finden wir das Gleichgewicht, das nicht mehr ausblendet, sondern im Gegenteil sich öffnet für das was da ist, einschließlich des eigenen Leids.

Letzte Woche habe ich mein Smartphone im Hauptbahnhof fallen lassen. Wenig Selbstmitgefühl führt eher dazu, dass ich mich selbst beschimpfe, wie tollpatschig und unvorsichtig ich mal wieder bin – eine Selbstabwertung, zusätzlich zu dem Missgeschick. Würde ich so zu einer Freundin sprechen, wenn ihr das gleiche passiert? Oder zu einer anderen Person, die mir am Herzen liegt? Wahrscheinlich nicht.

Wenn du dein Selbstmitgefühl stärken willst, stelle dir am besten die Frage: “Wie würde ich mit einem Freund umgehen?” Hole dir was zu schreiben und beantworte die folgenden Fragen und Impulse:

  • Denke an Zeiten, in denen ein enger Freund nicht mit sich selbst klar kam und er oder sie mit sich gekämpft hat. Wie würdest du darauf reagieren (besonders wenn es dir gerade sehr gut geht)? Schreibe bitte auf, was du tun und sagen würdest. Achte auf den Ton in dem du dabei mit deinem Freund sprichst.
  • Jetzt denke an Zeiten, in denen du mit dir selbst nicht klar kamst und mit dir gekämpft hast. Wie reagierst du üblicherweise dann auf dich? Schreibe auf, was du dann tust, denkst und sagst und achte auf den Ton, in dem du mit dir sprichst.
  • Hast du einen Unterschied bemerkt? Falls ja, frage dich, warum. Welche Faktoren oder Ängste führen dazu, dass du dich selbst und andere so unterschiedlich behandelst?
  • Bitte schreibe auf, was sich in deinem Leben verändern würde, wenn du üblicherweise freundlich zu sich wärst. Wenn du einen Fehler machst oder dir ein Unglück widerfährt, würdest du dann so mit dir selbst umgehen, wie du das mit einem Freund tust?

Warum behandelst du dich nicht wie einen guten Freund und schaust mal, was passiert?

Selbstmitgefühl heißt wahrzunehmen, was uns gerade passiert. Egal, ob es angenehm oder unangenehm ist. Es geht darum zu bemerken, wenn wir uns Druck machen oder wenn wir uns selbst beschimpfen. Das ein Signal dafür, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: was würde ich einer lieben Freundin in so einer Situation sagen?

Aus unseren engen Beziehungen wissen wir genau, dass es schädlich ist, Menschen Vorwürfe zu machen, die gerade leiden. Das macht es schlimmer, nicht besser. Menschen in schwierigen Situationen brauchen Verständnis und Trost, auch wenn die Ursache des Dilemmas vielleicht selbst verschuldet ist.

Keine Angst, Selbstmitleid ist etwas ganz anderes. Selbstmitleid vergrößert eigene Leiden. Andere Menschen mit ihren Erfahrungen geraten aus dem Blickfeld. Selbstmitgefühl hält andere Menschen mit ihren Erfahrungen im Blickfeld. Und nicht nur das: es führt auch zu einem gut ausgeprägten Selbstwertgefühl und größerer Bereitschaft, sich die Verantwortung für eigenes Scheitern einzugestehen.

Der Unterschied zwischen Selbstmitgefühl und Selbstmitleid liegt darin, dass der Selbstmitleidige auf sein eigenes Leid konzentriert bleibt, sich nur dafür interessiert und für alles andere weitgehend verschließt. Selbstmitleid führt deshalb zu Gefühlen von Isolation und abgetrennt Sein von den anderen.
Die Alternative zu Selbstmitleid ist nicht, gegen emotionalen Schmerz anzukämpfen. Wenn wir das versuchen, bleiben wir darin gefangen; er wird zur Falle. Die Alternative zu Selbstmitleid ist, die Perspektive eines mitfühlenden Anderen sich selbst gegenüber einzunehmen. Dadurch schaffst du den Raum, Zusammenhänge zu sehen und die Dinge in eine größere Perspektive zu rücken. Anstatt uns selbst anzuklagen, zu kritisieren und zu versuchen, uns in Ordnung zu bringen (oder andere oder die ganze Welt), könnten wir anfangen, uns selbst anzunehmen.

Das Mitgefühl und die Liebe, die du dir selbst entgegenbringst, sind das Fundament der Liebe und des Mitgefühls für andere. Es ist doch logisch, dass wir keine Empathie für andere haben können, wenn wir die gleichen Gefühle – Verzweiflung, Angst, Versagen, Scham – bei uns selbst nicht tolerieren. Und wie können wir anderen auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenken, wenn wir völlig von unseren eigenen inneren Kämpfen in Anspruch genommen sind? Erst wenn wir mit unseren eigenen Problemen wieder umgehen können, können wir unsere liebevolle Zuwendung auf andere ausdehnen, was wiederum zur Verbesserung unserer Beziehungen und zur allgemeinen Lebenszufriedenheit beiträgt.

Quellen

Christopher Germer: Der achtsame Weg zur Selbstliebe, Freiburg, 2010

www.self-compassion.org

Breines, J., & Chen, S. (2013). Activating the inner caregiver: The role of support-giving schemas in increasing state self-compassion. Journal of Experimental Social Psychology, 49, 58-64.: Teilnehmer, die sich an eine Zeit erinnerten, in der sie einen Freund emotional unterstützten … berichteten über mehr Selbstmitgefühl in Bezug auf ein Problem, das sie beschäftigte, als Teilnehmer die nicht über die Unterstützung von Freunden nachdachten. – Übersetzt aus Greater Good.


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