„Schönheit ist für jede Frau erreichbar, wenn sie sich genug Mühe gibt“ – das glaubt eine Friseurin aus Kasachstan. Sie meinte das Aussehen, nicht die „innere Schönheit“. Diese Aussage ist die oft geäußerte Einladung zu einem Kampf, den ich nicht gewinnen kann und der meine Fähigkeit bedroht, mich selbst zu akzeptieren.
Warum sind wir oft unzufrieden mit uns und können uns selbst nicht akzeptieren?
Wir sehen und hören viel von Erfolg und Leistung anderer Menschen. Sehr viel mehr, als über Fehler und Scheitern. Das prägt unsere Vorstellung von dem, wie wir sein sollten. Die meisten von uns haben sehr hohe Ansprüche an uns selbst, unrealistische Maßstäbe. Eigentlich liegt es auf der Hand: wenn wir unerfüllbare Erwartungen an uns haben, sind wir chronisch mit uns unzufrieden. Wir sehen nicht, was wir sind und was wir können, sondern nur, was zur Perfektion fehlt.
Leider ist die Geschichte damit noch nicht zu Ende. Denn oft haben wir im Laufe unserer Kindheit und Jugend ein gefährliches, uns schwächendes Glaubenssystem übernommen:
„Ich bin, was ich erreiche
und wie gut ich es erreiche.
Gefallen.
Leistung bringen.
Sich vervollkommnen.“

Es ist völlig normal, mit eigenem Verhalten oder auch bestimmten eigenen Eigenschaften unzufrieden zu sein. Schädlich wird es erst, wenn wir glauben, deshalb weniger wert zu sein, als andere Menschen. Wenn das nicht Übereinstimmen mit gesetzten Normen zur Abwertung führt.
Wie Perfektionismus funktioniert
Wenn wir perfektionistisch sind, versuchen wir zu kontrollieren, wie wir wahrgenommen werden. Ziel ist die Anerkennung. Das ist eine unlösbare Aufgabe, denn wir können nicht kontrollieren, wie uns andere sehen. Deshalb ist Perfektionismus selbstzerstörerisch. Perfektion ist unmöglich. Auf dieser Grundlage haben wir keine Chance, uns selbst zu akzeptieren. Egal, wie sehr wir es versuchen.
Wir alle erleben Scham, werden beurteilt oder kritisiert. Perfektionismus lässt uns glauben, das läge an unserer mangelnden Perfektion, wir müssten uns mehr anstrengen. Er treibt uns tiefer in das Bestreben „richtig“ auszusehen und alles „richtig“ zu machen.
Entweder brichst du auf in deine Geschichte oder du lebst außerhalb deiner Geschichte und kämpfst um deinen Wert.
Brené Brown
Dann versuchen wir zu verstecken, wer wir wirklich sind. Wir schieben unsere schwierige Geschichten weg, blenden wichtige Teile unseres Lebens aus. Wir versuchen Scham, Beurteilung und Tadel zu vermeiden. Wenn wir einen Teil unserer Erfahrungen wegschieben, ist unser Herz nicht mehr wirklich offen.
Um uns selbst akzeptieren zu können, müssen wir unsere alle Erfahrungen integrieren, auch die Niederlagen.
Es ist leichter, uns selbst zu akzeptieren, wenn wir unsere Charakterstärken kennen
Für mich war es augenöffnend, meine eigenen Charakterstärken kennzulernen. Damit sind Eigenschaften gemeint, die in den meisten Kulturen positiv bewertet werden.
Unsere eigenen Charakterstärken fallen uns oft gar nicht auf. Sie sind einfach „normal“. Wenn wir uns ihrer bewusstwerden, können wir uns besser selbst akzeptieren.

In meinem Fall ist es „die Liebe zum Lernen“, eine Stärke, die zur Tugend der „Weisheit“ gehört. Sie kam mir so selbstverständlich vor und ich hatte nie darüber nachgedacht, dass nicht alle Menschen es lieben, die Entfaltung von Wissen zu verfolgen und sich an der Ästhetik dieser Architektur zu erfreuen. (Ja, „Sinn für das Schöne“ ist auch eine meiner Stärken.)
Es gibt auch Stärken, die direkt positiv auf unsere Selbstakzeptanz wirken:
„Urteilsvermögen“ unterstützt uns dabei, uns der Litanei der Erwartungen in unserem Kopf bewusst zu sein und unser Denken an der Realität zu überprüfen. „Spiritualität“ ist die Verbindung mit etwas, das größer ist, als wir selbst. Wenn sie sich mit Ehrfurcht verbindet, führt sie zu zu mehr „Bescheidenheit“ und damit zu geringere Ansprüchen an sich selbst. Menschen, die häufiger Ehrfurcht erleben, erkennen die eigenen Stärken und Schwächen besser und dir Rolle äußerer Faktoren (wie glückliche Zufälle, ein höheres Sein oder andere) bei ihren persönlichen Leistungen mit größerer Wahrscheinlichkeit an.
Um unsere Stärken zu wissen hilft uns dabei, uns unsere Schwächen zu verzeihen („Vergebungsbereitschaft“). Und das ist eine Voraussetzung dafür, uns selbst zu akzeptieren.
Ohne Selbstmitgefühl geht es nicht
Menschen, die authentisch aus vollem Herzen leben, sprechen über ihre Fehler auf liebevolle und aufrichtige Weise, ohne Scham und Angst. Und sie lassen sich Zeit damit, sich selbst und andere zu beurteilen. Brené Brown beobachtete in ihrer Forschung: „Ihr Mut, ihr Mitgefühl und ihre Verbundenheit schienen darin zu wurzeln, wie sie sich selbst behandelten.“
Selbstmitgefühl ist ein wesentlicher Schlüssel dafür, uns selbst zu akzeptieren. In der westlichen Kultur ist eher innere Härte gegen sich selbst der Wert, der vielen von uns mitgegeben wurde. Wenn wir lernen wollen uns selbst und andere mehr anzunehmen und weniger abzuwerten, ist die Kultivierung von Selbstmitgefühl ein guter Start.

Denn sonst verlieren wir die Überzeugung, dass wir es wert sind, geliebt zu werden. Wir können lernen, uns mit unserm Inneren Kritiker zu befreunden. Wir können ihn als Gast sehen, mit dem wir etwas Zeit verbringen, nicht als unser Richter. Wir können ihn einfach mitnehmen zu dem, was uns gerade guttut, sei es ein Waldspaziergang, ein ausgedehntes Bad oder Hingabe an ein Musikstück.
Manches müssen wir einfach loslassen
Vielleicht müssen wir lernen, zu akzeptieren, dass manche Träume unrealistisch sind. Wenn wir lernen wollen, uns mehr zu akzeptieren, müssen wir auswählen, welche unserer Bewertungen wir ernst nehmen wollen. Wir müssen lernen, unsere Gedanken und Gefühle als das zu erkennen, was sie sind: Ergebnisse der Prozesse unserer Psyche, die uns beim Überleben helfen sollen. Sie sind subjektive Einschätzungen, die falsch sein können.
Gedanken und Gefühle, die uns schaden, sollten wir nicht zu wichtig nehmen.
Damit Vergebung geschehen kann, muss etwas sterben. Wenn du die Wahl triffst zu vergeben, musst du den Schmerz ansehen. Du wirst einfach verletzt sein.“
Brené Brown
Dazu gehören diese stereotypen Geschichten, die wir immer wieder als Erklärung schmerzlicher Lebensereignisse heranziehen. Unser Gehirn belohnt uns mit Dopamin, wenn wir Muster erkennen und vervollständigen. Und Geschichten sind Muster. Wir werden durch Hormone belohnt, egal, ob die in der Geschichte gegebene Erklärung richtig ist oder nicht.
Solche Muster können in einem Satz übermittelt werden. Bei Brené Brown (und bei mir) ist es oft der Satz „ich bin nicht gut genug“.
Was wäre, wenn wir von diesen Mustern und Geschichten nicht mehr bestimmen ließen, wer wir sind und was gut für uns ist? Wenn wir einfach hinhören auf die Stimmen in uns, die uns das vor Augen führen, was gut für uns ist?
Es ist dazu hilfreich, die Vorstellung loszulassen, wir hätten ein einheitliches, an unseren bewussten Werten und Zielen ausgerichtetes Selbst oder sollten es haben (mehr dazu hier). Wir sind vielfältige und komplexe Wesen, alle Widersprüche inbegriffen. Deshalb ist es ist extrem hilfreich, den Stimmen, die für unsere Bedürfnisse und unsere Werte sprechen, mehr Gewicht zu geben.
Quellen:
Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark
Brené Brown: Rising strong
Christopher Germer: Der achtsame Weg zur Selbstliebe, Freiburg, 2010
Sarah DiGiulio: Why scientists say experiencing awe can help you live your best life
sehr schöner Text, den ich gut nachvollziehen kann und den ich immer wieder lesen möchte, wenn die Traurigkeit über mich selbst zu lange anhält.
Liebe Heidrun, vielen Dank. Hoffentlich bist du nicht zu viel traurig über dich. Das wünsche ich dir.