Selbstbild im Zugfenster - junger Mann betrachtet sich

Freundschaft mit dem „inneren Kritiker“

Aktualisiert am 31. März 2022

Jetzt ist es genug! Vor drei Monaten merkte ich: so kann es nicht weitergehen. Obwohl ich niemandem verpflichtet bin, keinem Arbeitgeber, keinem Kunden, hetzte ich mit einer riesigen Aufgabenliste durch meinen Alltag. Natürlich wurde ich nie fertig, war oft unzufrieden von dem, was ich geschafft habe. Fast jeder kennt das.
Nur – früher dachte ich, der Druck käme von außen, sei ein Ergebnis von Verträgen und Verbindlichkeiten. Nun stellte ich fest, dass ich das alles selbst verursache, ohne äußeren Grund. Auslöser sind meine Einstellungen, meine Gedanken, das, was ich glaube sein und erreichen zu müssen. Mein Stress lag (und liegt noch) in meinem Selbstbild, in dem, wie sich die Jahrzehnte der Vollzeitarbeit in den Sedimenten meines Seins niedergeschlagen hatten. (1)

Ich merke, dass mir das nicht gut tut, merke, dass es mich von dem wegzieht, wie ich „eigentlich“ leben will. Direkt spürbar wird das durch eine Stimme in meinem Kopf, die mich verunsichert, mich oder andere Menschen beurteilt, kritisiert . Ich kann sie nicht zum Schweigen bringen Fast jeden Tag ist diese Stimme wieder da mit ihrem „du strengst dich nicht genug an“ oder „wieder nicht geschafft“ oder “ das darfst du dir nicht gefallen lassen“. Der Kampf mit ihr bringt nichts. Der Versuch, sie zu ignorieren auch nicht. Sie nervt und gewinnt immer wieder die Oberhand.

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Die Schritte zur Flexibilität

Das Spiel ändert sich, wenn ich ein anderes Bild von dem habe, was mich ausmacht (2). Ich bin ein Gefäß für die vielen Stimmen und Impulse, die in mir sind. Ich bin nicht identisch mit einer Stimme oder einem Gefühl, so laut es auch schreit. Der innere Kritiker dominiert mich nicht mehr.

1. Schritt: Verstrickung auflösen

Am Anfang geht es darum, meiner inneren Stimme nicht unbedingten Glauben zu schenken, kritisch zu hinterfragen, was sie sagt: ist es gut für mich oder schadet es mir? Wenn sie gut für mich ist, ist alles ok. Wenn sie mir schadet, verlangt mein innerer Kritiker Unmögliches von mir, um mich dann niederzumachen, wenn ich es nicht schaffe. Meistens merke ich das durch meine körperliche Reaktiont: ich bin angespannt, in der Magengegend gibt es einen Druck, ich atme flach. Wenn ich mich dann frage, was los ist, bemerke ich ihn. Ich fühle mich, wie unter der Aufsicht einer unbarmherzigen Autoritätsperson, die von mir ein schnelleres Tempo verlangt. Jetzt geht es darum, mich nicht von ihm dominieren zu lassen.

Gedanken und Gefühle wie Traurigkeit oder Angst können uns unsere Energie rauben und uns daran hindern, unsere Ziele und Herzenswünsche zu verfolgen. Deshalb ist es wichtig, unsere Gedanken und Gefühle wahrnehmen zu können, ohne in sie verstrickt zu werden. Wir identifizieren uns nicht mit unseren Gedanken und Gefühlen – wir haben sie nur.

2. Schritt: Akzeptanz

Ich neige dazu, unangenehme Gefühlen abzuwehren, z.B. mich abzulenken. Es bedarf einer bewussten Anstrengung, mich ihnen freundlich zuzuwenden. Deshalb ist es eine Übung, zu ihnen “ja” zu sagen, sie als Teil meines Leebens zu akzeptieren.
Mein Innerer Kritiker will mich antreiben, schneller zu werden, mit dem, was ich gerade tue. Er ist nicht mein Feind, er will mich dabei unterstützen, erfolgreich zu sein (was das auch immer heißt). Er verficht ein eingeübtes Muster meines Bewusstseins, das mich schützen soll.

Wenn wir unsere Gefühle akzeptieren, angenehme und unangenehme, dann können wir flexibler reagieren und auch in der Gegenwart von Angst oder Schmerz Neues lernen. Wir bekämpfen sie nicht. Wir lassen sie zu und nehmen sie bewusst wahr.

3. Schritt: präsent Sein

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf dieses Knäuel von Angst und Druck in meinem Bauch. Wie genau fühlt es sich an? Wie schwingt es mit meinem Atem? Wo fühle ich es ? Ich stelle mir vor, es sei ein kleines Kind, das weint. Das weckt den Impuls in mir, das Kind zu trösten. Trösten heißt für mich, in den Arm nehmen und halten, solange es nötig ist. Vor allem heißt trösten, das Gefühl zu akzeptieren, nicht abzuwerten oder wegzuschieben. Allein dadurch wird es etwas milder. Es geht nicht weg, aber es ist besser zu ertragen.

Sich in der Welt durch Wissen und Denken zu orientieren ist nur ein Teil der achtsamen Wahrnehmung des Hier und Jetzt. So sind wir besser davor geschützt, unsere oft unbewußten Bewertungen und Beurteilungen nicht mit Erfahrung zu verwechseln.

4.Schritt: Ein neues Selbstbild kultivieren

Während ich Mitgefühl mit diesem schluchzenden Bündel in mir habe, wird mir bewusst, dass es dahinter und daneben noch Anderes gibt: ein Bedürfnis nach Freude, der Wunsch, spontan meinen Impulsen zu folgen, anstelle eines rigiden, selbstentworfenen Arbeitsplans und vieles mehr. Das alles gehört zu mir. Es sind verschiedene Facetten meines Selbst.

Wir können unser Selbst als einen Ort verstehen, an und in dem ständig etwas passiert und unterschiedliche Kräfte am Werk sind. Das ermöglicht es uns, verschiedene Perspektiven auf das Geschehen zu haben. Nicht eine oder einige wenige Stimmen oder Impulse sind wichtig und dominieren alles. Alle wollen etwas Gutes für das Gesamte erreichen.

5. Sich an Seinen Werten orientieren

Was aber ist jetzt dran? Mein innerer Kritiker sitzt jetzt in der zweiten Reihe. Wie kann ich diese zum Teil widersprüchlichen Impulse und Energien so zusammenführen, dass ich das tue, was mir wirklich wichtig ist? Was ist mir denn wichtig? Die Antwort ist “Liebe”, seit ich denken kann. Dazu kam etwa 1985 mein Bestreben, hilfreiches psychologisches Wissen für andere Menschen fruchtbar zu machen. Vor ein paar Jahren kam mit der Positiven Psychologie die Entdeckung dazu, dass “Freude am Lernen” für einen Erwachsenen ein besonderer Wert sein kann. Und ich habe gemerkt, dass das die Anstrengung, meine Ziele zu erreichen ohne mich in Nebensächlichkeiten zu verzetteln, damit verbunden sein muss, sonst ist es keine runde Sache für mich. Und dann versuche ich, meine Träume wichtiger zu nehmen. Ich habe sie immer wieder zurückgestellt, weil gerade anderes im Vordergrund stand.

All das spielt irgendwie eine Rolle. Immer wieder brauche ich einen ruhigen Augenblick, um mir klar zu werden: wo will ich wirklich hin?

Unsere Werte beschreiben die Lebensqualitäten, die uns am Herzen liegen. Sie unterstützen uns dabei so zu leben, wie wir es wirklich für sinnvoll halten. Mißachten wir sie, werden wir unzufrieden oder unglücklich. Schmerzliche Erfahrungen übermitteln uns ihre Botschaften.

6. Sich zur Veränderung entschließen

Wenn der Alltag beginnt, entscheidet es sich, ob ich es schaffe, mein Handeln daran auszurichten, wo ich wirklich hin will, nicht wo mich meine Gewohnheiten und die Ausweichstrategie vor dem Inneren Kritiker hintreiben. Also nicht mit zusammengebissenen Zähnen die Aufgabenliste abarbeiten, sondern das in den vorhergehenden Schritten Erkannte zu leben. Edith Eger formuliert die wesentlichen Fragen so: “Was mache ich jetzt? Funktioniert es? Bringt es mich meinen Zielen näher, oder entfernt es mich weiter von ihnen? (3)
Im Augenblick sitze ich vor dem Computer und schreibe diesen Beitrag. Angst sitzt im Bauch und ich spüre meinen Atem. Immer wieder übernimmt die Angst, bleckt der innere Kritiker seine Zähne und ich gebe ihm die Macht größer zu werden. Dann verzettele ich mich oft in Nebensächlichkeiten, die mich daran hindern, meinen Text fertigzuschreiben.
Wenn mir das klar wird, mache ich eine Pause. Ich stehe auf, gehe ein paar Schritte und spüre in meinen Körper. Ich weiß, dass ich jetzt Mut brauche, Mut etwas zu tun, bei dem ich mich unsicher fühle. Und dass das in Ordnung ist. Außerdem weiß ich, dass ich eine innere kritische Instanz brauche, um zu schreiben. Sonst kriege ich ja nie einen lesbaren Text hin. Meine Übung ist, vormittags zu schreiben und die Angst dabei zu akzeptieren.

Wir führen neue, immer umfassendere Verhaltensgewohnheiten in unseren Alltag ein, die an unseren Werten ausgerichtet sind. Wir brauchen Selbstmitgefühl, Offenheit und die Bereitschaft, unsere Erfahrungen so zu erleben, wie sie sind und nicht, wie wir oder andere denken, dass sie sind.

Der Tanz der Flexibilität

All das gehört zusammen und verschmilzt im Laufe der Zeit zu Figuren eines Tanzes, des Tanzes der Flexibilität. Er wird, genau wie jeder andere Tanz, in separaten Schritten gelernt. Irgendwann gehen alle geübten Schritte auf in inspirierten, flüssigen Bewegungen.

Und selbstverständlich ist der innere Kritiker dabei und kommentiert meinen Lernprozess und mein Können negativ. Er gehört zur Combo dazu und wir entscheiden gemeinsam, ob sein Einwand gerade hilfreich ist, oder nicht. (3)

Bisher muss ich diese Schritte oft noch sehr bewusst gehen. Besonders die Aktzeptanz der des inneren Kritikers fällt mir schwer. Ich habe aber Hoffnung, dass sich das mit der Zeit und durch Übung ändert, unterstützt durch Gespräche in der Lerncommunity.

In den nächsten Beiträgen werde ich meine Lieblingsübungen zu den einzelnen Schritten beschreiben. Schauen Sie wieder rein!

Quellen

  1. Ich halte die Aussage der Persönlichkeitsforscherin Jule Specht für plausibel, dass Erwachsene durch die letzten zwei bis drei Jahre ihres Lebens stärker geprägt sind, als durch ihre Kindheit (wobei sich da natürlich auch manches durch die Jahrzehnte schleppen kann).
  2. Den Tanz der Flexibilität mit seinen Schritten beschreibt Steven Hayes ausführlich in seinem Buch „A Liberated Mind„.
  3. Dr. Edith Eva Eger: In der Hölle tanzen, München, 2019, S. 327
  4. Diesen Entscheidungsprozess hat Friedemann Schulz von Thun in seinen Kapiteln über das Innere Team sehr anschaulich gemacht, In: Miteinander reden 3, Hamburg, 1998

Wenn du eine Frage hast: schreib mir bitte eine Nachricht.


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