Dieser Artikel wurde am 10.1.2020 verfasst und am 1.5.2022 stark überarbeitet.

Oft begrüßt mich morgens eine innere Stimme, die auflistet, was alles „zu tun ist“. Wenn ich ihr folge, ist der Tag bestimmt durch Abarbeiten von Aufgaben, ohne eigentlich wirklich Lust dazu zu haben. Und verbunden damit der Impuls, den inneren Schmerz darüber beiseite zu schieben.

Was ist die innere Stimme?

Die innere Stimme ist unsere Art, uns auf der Grundlage bewusster oder unbewusster Erinnerungen (Gedächtnisinhalte) in der Welt zu orientieren. Kleine Kinder haben noch keine innere Stimme, sondern sprechen alles aus, was sie denken. So wie man auch beim Lesenlernen erst mal alles laut ausspricht, bevor es lautlos und nach außen unsichtbar wird.

In der inneren Stimme drückt sich unsere Lebenserfahrung aus, unsere Werte und unsere aktuelle Aufmerksamkeit. Sie kann erkundenden Charakter haben, dann nennen wir das „Nachdenken“. Oder sie ist ein Kommentator. Sie kann freundlich sein oder kritisch. Sie kann von Selbstmitgefühl geprägt sein oder von Abwertung. Sie kann uns helfen, etwas besser zu verstehen oder ins Grüben zu geraten. Die innere Stimme sagt nicht „die Wahrheit“.

Wie spricht die innere Stimme mit dir?

Wenn wir unangenehme, irritierende Gedanken haben, ist die erste Frage, ob sie nützliche Selbstkritik sind oder Selbstsabotage.

Die innere Stimme als Schutzfunktion

In deiner inneren Stimme drückt sich deine Lebenserfahrung aus. Wenn dich deine innere Stimme an dem hindert, was du gerne erreichen möchtest, aktiviert sie emotionale, gedankliche und körperliche Reaktionen die vielleicht aus deiner jetzigen Sicht nicht sinnvoll sind.

Stell dir mal vor, du hättest dieses Warnsignal nicht. Male dir aus, was dann in deinem Leben geschieht. Wie ist es mit einer Situation in der du dich blockiert fühlst?

Wäre es aus deiner Sicht nur gut, wenn die innere Stimme weg wäre? Oder gibt es vielleicht auch einen Aspekt, der für dich Sinn macht?

Die abwertende innere Stimme

Wenn deine innere Stimme in einer Art und Weise mit dir spricht, wie du es bewusst nicht mit einem lieben Menschen tun würdest (z.B. na typisch, hast du natürlich wieder nicht hingekriegt), wäre mehr Selbstmitgefühl das richtige Rezept. Denn es hilft keinem Menschen auf dieser Erde in irgendeiner Hinsicht, abgewertet zu werden, auch nicht durch den inneren Kritiker.

3 Schritte zur hilfreichen Begegnung mit der inneren Stimme

Wenn wir durch unsere Gedanken in eine Abwärts- oder Wutspirale abdriften, ist Abstand zu den Gedanken empfehlenswert. Dasselbe gibt , wenn wir uns vor unangenehmen Gefühlen wie Angst oder Verlegenheit fürchten, weil wir glauben, diese Gefühle nicht haben zu dürfen.

Zunächst geht es um die Auflösung der Verstrickung, der Verstrickung in unsere Gedanken und Gefühle. Es geht darum, die innere Stimme mit Abstand wahrzunehmen, das Unangenehme zuzulassen, ohne es sofort wegzuschieben. Das erfordert Übung, denn weil wir Eindeutigkeit und Stimmigkeit in unserem Innenleben haben wollen, hätten wir gern eine klare, vertrauenswürdige, innere Stimme. Wir wollen eine klare Überzeugung haben von dem, wie wir die Welt sehen. Deshalb wollen wir Widersprüchliches und Unangenehmes einfach weg haben.

Es stellt sich die Frage, wie deine innere Stimme mit dir spricht. Weist sie dich auf für dich umsetzbare Korrekturmöglichkeiten und gangbare Handlungsalternativen hin? Dann ist sie förderlich, wichtig für deine Orientierung und deine Entwicklung.

Wenn dich deine innere Stimme nur nach unten zieht und auf dir rumhackt, erzeugt sie ständigen selbstgemachten Stress. Nachdenken hilft hier nicht weiter. Im Gegenteil. Nachdenken ist die Verführung, in’s sinnlose und destruktive Grübeln abzurutschen.

Du brauchst also ein bisschen inneren Abstand von deiner inneren Stimme, um dir darüber klarzuwerden.

1. Hinterfrage die innere Stimme

Was genau sagt die innere Stimme eigentlich?

Welche Beweise gibt es dafür, dass der Gedanke richtig ist?

Ganz oft denke ich, nachdem ich etwas abgeschlossen habe: „was musst du jetzt als nächstes machen?“ Inwiefern ist dieser Gedanke richtig oder falsch? Tatsächlich stimmt seine Voraussetzung nicht, dass ich jetzt etwas als nächstes machen muss. Ich bin keine Zwangsarbeiterin oder Sklavin. Also gibt es keinen Beweis für diesen Gedanken.

Zu welchen Konsequenzen führt der Gedanke (positiv oder negativ)?

Der Gedanke zieht mich in die Abarbeitung von Aufgabenlisten hinein. In der Konsequenz schließt er die Wahlfreiheit aus, unabhängig von der Aufgabenliste etwas anderes zu tun oder auch nur eine Pause zu machen.

Passt das zu dem, was ich für mich möchte?

Ich möchte nicht im Hamsterrad stecken, sondern den Menschen und Dingen, denen ich gerade begegne, freundlich zugewandt sein. Der Gedanke passt nicht zu dem, was ich möchte.

Das bedeutet für mich, dass ich mich nicht vorrangig an diesem Gedanken orientieren möchte. Ich brauche Abstand zu ihm, eine innere Distanz.

2. Beobachte, was in dir passiert

Wenn du nicht in eine Diskussion mit der inneren Stimme hineingezogen werden willst, weil es eine altbekannte Beschwerde deines inneren Kritikers ist, die schon früher nichts gebracht hat, solltest du nicht versuchen, den Kritiker durch Argumente zu überzeugen. Das führt dich nur in eine Grübelschleife.

Beobachte, welche Gefühle in dir hochkommen? Was ist es: Angst, Zorn, Scham? Wenn du es benennst, ist das ein erster Schritt aus der Verstrickung. Wie fühlt sich das in deinem Körper an? Wo genau fühlst du es?

Am besten sprichst du mit dir in der zweiten Person. Sage also innerlich oder auch laut: du fühlst den Stich in der Magengrube. Und nicht: ich fühle …

Wenn wir etwas beschreiben ohne den Versuch, es verändern zu wollen, wird die innere Erregung etwas gedämpft. Wir gehen ein bisschen auf Abstand und die Hirnaktivität im Großhirn verstärkt sich. Der Streß verringert sich.

3. Verbinde dich mit dem, was dir wichtig ist

Atme ein paar mal tief durch und lass dabei die Phase des Ausatmens ein bisschen länger dauern als das Einatmen. Auch das hemmt das Aufgewühltsein ein bisschen. Vielleicht kommen dir jetzt schon andere Dinge in den Kopf, die dir auch wichtig sind – außer dem, was die innere Stimme will.

Kannst du dich aus einer gewissen Distanz sehen: deine aktuellen Gefühle und Gedanken und das was sonst dein Leben ausmacht? Welche anderen Farben und Werte gibt es noch?

Wenn du ein bisschen Zeit hast, frage dich: wie werde ich diese Situation in 10 Jahren sehen?

Hinderlichen Gedanken und Gefühle sind normal

Negative, blockierende Gedanken werden immer wieder auftauchen. Denn unsere Psyche achtet eher auf möglich Gefahren und versucht uns zu Handlungen zu bewegen, die uns Sicherheit bringen. Unserer inneren Stimme geht es nicht darum ob wir unsere persönlichen Ziele erreichen, sonden dass wir gut überleben. Deshalb behindert sie teilweise, was wir im Leben eigentlich wollen.

Es ist empfehlenswert mit negativen Gedanken zu rechnen. Es macht überhaupt keinen Sinn, uns selbst gegenüber ärgerlich zu werden, wenn sie hochkommen. Im Gegenteil.

Wenn die innere Stimme wiedermal in diesen alten Geschichten herumrührt, die dir immer wieder Schwierigkeiten machen, ist vielleicht Zeit für Freundlichkeit gegenüber dem Teil in dir, der gerade leidet.

Das kleine Kind

Wann hat es begonnen? Wann hat die innere Stimme das erste Mal diesen Satz gesagt, der dir die Energie raubt? Nimm dir ein bisschen Zeit um dir vorzustellen, wie du in dieser Zeit ausgesehen hast.

Warst du ein Kind? Wie alt ungefähr? Wie hast du ausgesehen?

Dann, lass in deiner Vorstellung die innere Stimme mit der Stimme deines jüngeren Selbst sagen. … Und dann konzentriere dich darauf, was du tatsächlich in so einer Situation machen würdest, wenn du für diese jüngere Person dasein möchtest.

Male dir aus, wie du diesem Kind oder jüngeren Menschen hilfst, vielleicht auch durch eine Umarmung. Dann frage dich selbst: “Wie kann ich das sinnbildlich jetzt für mich tun?” und schau, ob hilfreiche Ideen in dir hochkommen.

Fazit

Die innere Stimme gehört zum Menschsein. Sie kann hilfreich sein und in Übereinstimmung mit unseren Zielen. Und sie kann uns blockieren bei dem, was wir tun wollen. Das Wichtigste ist es, uns nicht mit ihr zu identifizieren, sondern sie kritisch zu prüfen.

Wenn sie nach unserem Verständnis nicht hilfreich ist oder sogar abwertend, nimm sie am besten einfach zur Kenntnis. Beobachte deine emotionalen Reaktionen darauf und versuche, die Erfahrung in Worte zu fassen. Akzeptiere, das es jetzt so ist, wie es ist.

Diese Erfahrung ist eine unter vielen in deinem Leben. Du kannst dich, ohne die innere Stimme zu bekämpfen, dem zuwenden, was du willst.

Diese neue Art des Umgangs mit einer selbstblockierenden inneren Stimme mag zunächst befremdlich erscheinen, und sie erfordert mehr Übung. Aber sie beendet auch den Kampf und erlaubt dir, mehr von dem zu tun, was dir wichtig ist.

Steven C. Hayes
  1. Steven Hayes: A Liberated Mind
  2. https://www.psychologytoday.com/us/blog/get-out-your-mind/202204/how-stop-sabotaging-yourself
  3. Sebastian Purps-Pardigol und Nadine Rondholz: Leben mit Hirn: wie Sie Ihre Potenziale entfalten, egal was um Sie herum geschieht. Frankfurt New York: Campus Verlag, 2021