Aktualisiert am 6. Januar 2023

Ich will beides, Genuss im Augenblick, Leistungsfähigkeit und innere Ruhe. Verbundenheit, nicht im Hamsterrad laufen. Das, was ich tue, mit Freude tun, oder zumindest im Bewusstsein, dass es sinnvoll ist. Ich möchte weniger auf Autopilot geschaltet sein, mich mehr an dem orientieren, was mir wirklich wichtig ist. Wie kann ich die Verbindung halten zwischen innerer Ruhe und dem was gerade in mir und um mich herum passiert?

Aspekte der inneren Ruhe

Das Rad des Bewusstseins

Ein Bild von Daniel Siegel ist hilfreich für mich, um mir diese Haltung vorzustellen: Das Bewusstsein ist wie ein Fahrradrad. Auf der Felge sind die verschiedenen Kontaktpunkte unserer inneren und äußeren Welt, alles, was in unser Bewußtsein kommen kann.

Das sind zuerst die klassischen fünf Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Berührung wahrnehmen). Dazu kommen die Empfindungen aus dem Körperinneren wie z.B. aus den Muskeln oder der Lunge, die geistigen oder psychischen Aktivitäten wie Denken, Fühlen und Erinnerung. Ebenso liegt unser Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen oder der Natur dort.

Die Nabe ist der Ort der Psyche oder des Geistes, von dem aus wir bewusst werden. Sie kann als eine Metapher für unseren präfrontalen Kortex gesehen werden.(1)

Verbindung von innerer Ruhe mit der Wahrnehmung der Mitwelt. Darstellung des Rad des Bewusstseins als Kreis mit Zeiger
Übersetzung der Grafik aus Daniel Siegel (2 )

Die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit unseres Bewussteins auf einen bestimmten Teil des Randes wird durch einen drehbaren Zeiger dargestellt. Innere Ruhe entsteht, wenn wir mit unserem Mittelpunkt, im Bild der Nabe bewusst verbunden sind. Dies nennt Daniel Siegel offenes Gewahrsein. Im Bild wir das dargestellt, dass der Aufmerksamszeiger und auf die Nabe zeigt. (2)

Offenes Gewahrsein

Im Alltag sehen wir “die Welt normalerweise durch eine Reihe von Filtern, die unsere Erfahrung einschränken und uns in schmerzhaften Gefühlsmustern festhalten können.”(1) Im offenen Gewahrsein legen wir unsere Filter und Panzer ab. Das Abschalten des inneren Autopiloten führt zu mehr Lebensfreude, wenn „selbstverständlich“ aufpoppende Gedanken uns niederdrücken. Offenes Gewahrsein ermöglicht die subjektive Erfahrung von Freude, Ehrfurcht und innerer Ruhe – von Sinn, Liebe und Verbundenheit. Neurophysiologische Untersuchungen konnten zeigen, dass der Zustand offenen Gewahrseins mit erhöhter Aktivität von Nervenzellen im Hirnstamm und geringer Aktivität in der Großhirnrinde. Es gehört zum “Ruhenetzwerk”.

Achtsamkeit

Innere Ruhe entsteht durch eine akzeptierende Haltung, die eine urteilsfreie Sicht der Dinge erst ermöglicht. Dem gegenwärtigen Moment absichtlich Aufmerksamkeit zu schenken ohne Bewertung – das ist die Beschreibung von Achtsamkeit. Das betrifft die Innen- und die Außenwelt. Dadurch wird das Streben nach immer mehr materiellem Besitz begrenzt und der Blick für andere, nicht selbstbezogene, Werte geöffnet.(5)

„Wenn Sie ihr Kind umarmen, sind Sie da und umarmen ihr Kind. Ihr Geist ist nicht irgendwo anders – oder, wenn er das ist, sind Sie sich dessen bewusst und können ihn deshalb in die Gegenwart zurückbringen.“ (4)

In den asiatischen Sprachen ist das Wort für Geist und Herz identisch. Innere Ruhe ist herzerfüllt.

Ein geschützten Raum für die Übung von Achtsamkeit und innerer Ruhe ist sehr empfehlenswert. Denn er unterstützt die unsere persönliche Übungsform im Alltag. Er kann aus Meditation oder formlose Übungen bestehen. Beispiele für formlose Praxis ist, im Tagesverlauf den eigenen Atem möglichst häufig bewusst wahrzunehmen oder beim Abspülen das Gefühl des Wassers auf der Haut und die Wasserbewegungen im Spülbecken bewusst zu erleben.

Deshalb ist Zeitdruck kein tatsächliches Hindernis für Übung. Denn es geht nicht um lange Meditationssitzungen im Lotussitz (obwohl das für manche die Übung der Wahl ist). Wichtig ist, dass wir “die Absicht, achtsam zu sein, immer wieder wachrufen und erneuern. … Gewöhnlich müssen wir diese Lektion immer wieder neu lernen. „(4)

Es gibt keinen Aspekt unseres Lebens, der nicht einfach dadurch zu Übung werden könnte, dass wir uns seiner bewusst werden und seine Entfaltung mit Gewahrsein verfolgen
Myla und Jon Kabat-Zinn

Mehr dazu hier.

Innere Ruhe im Alltag – Übungsvorschläge

Einfache Atemübung

Lege dich auf den Rücken, oder setze dich bequem hin. Wenn du dich für das Sitzen entscheidest, achte auf einen geraden Rücken. Lass die Schultern ein klein wenig hängen. schließe die Augen, wenn du möchtest. Richte die Aufmerksamkeit auf die Bauchdecke. Spüre wie sie sich beim Einatmen hebt und beim Ausatmen senkt. Bleibe bei der Atmung, Atemzug um Atemzug, als würdest du auf den Wellen des Atems reiten.

Wenn du merkst, dass die Gedanken sich verselbstständigen wollen, stelle fest, wovon sie abgelenkt werden, dann kehre zur Bauchatmung zurück. Auch wenn die Gedanken unzählige Male vom Atem abschweifen, bringe sie eben so oft zurück, ohne dich zu ärgern, ohne ungeduldig zu werden.

Übe dies täglich eine Viertelstunde, eine Woche lang, ob du nun Lust dazu hast oder nicht. Beobachte, wie es sich anfühlt, jeden Tag für eine kurze Zeit einfach nur zu atmen und zu sein ohne etwas anderes zu tun. (3)

Mehr Atemübungen gibt es z.B. bei diesem kostenlosen Download mit Atemübungen von der Techniker Krankenkasse.

Vom „reflexartigen Reagieren“ zum offenen Gewahrsein

Wenn wir merken, dass uns gerade nicht gefällt, was jemand sagt und tut und wir reagieren automatisch darauf, ist es empfehlenswert, Bewusstheit für den Körper und den Atem einbringen.

Hilfreich ist auf eine neugierige, offene, wohlwollende Art aufmerksam zu sein auf alle Gedanken und Gefühle, die gerade da sind.

Sie können alles registrieren, was aufkommt, und dann versuchen, mit den entstehenden Gedanken und Gefühlen zu atmen, ohne sie festzuhalten oder wegzuschieben oder weiter darüber nachzudenken – Sie umgeben sie einfach mit gütiger Bewusstheit. Diese Übung kann zwar in emotional brisanten Momenten eine echte Herausforderung sein, kann aber auf Dauer zu neuen Einsichten und Perspektiven führen.

Myla und Jon Kabat-Zinn

Besonders hilfreich und sogar erhellend kann es sein, wenn du nicht überhastet anfängst, die Situation zu korrigieren oder zu ändern, obwohl du den starken Impuls dazu verspürst. Du kannst versuchen, genau in diesem Moment die Situation mit den Augen deines Gegenübers zu sehen. Was könnten seine Gefühle und Bedürfnisse sein? Was braucht es von dir?

Siehst du vielleicht, während du die Intensität dieses Moments akzeptierst, einen Weg, weniger reflexhaft und dafür angemessener und vertrauensbildend zu reagieren? Wenn du ratlos oder verwirrt bist, was du in einem problematischen Moment tun oder wie du reagieren sollst, ziehe auch in Betracht, gar nichts zu tun – zumindest für den Moment.

Wenn du emotional völlig mitgerissen wirst und die Richtung nicht ändern kannst, kannst du versuchen, dir hinterher einen Moment Zeit zu nehmen, um über das Geschehene nachzudenken. Du wirst viele Gelegenheiten bekommen, das Überwinden von Gewohnheitmustern zu üben.(4) Egal, wie es gelaufen ist, wir können jeden Ausgangspunkt sehen als Schritt auf hin zu mehr innerer Ruhe.

Die Aufmerksamkeit konzentrieren und erweitern

Lege Musik auf, die dir gefällt und die mehrere Instrumente enthält. Du wirst beim Zuhören deinen Fokus verlagern von einem Instrument oder einer Gruppe von Instrumenten, wie z.B. den Streichern, auf andere Instrumente. Am besten ist es, wenn du einen Plan hast, wo du deine Aufmerksamkeit hinlenkst, bevor du beginnst, damit die Musik nicht das Kommando übernimmt und dir den Ablauf diktiert. Du kannst einen Ein-Minuten-Timer auf deinem Telefon verwenden, um dich daran zu erinnern, den Schwerpunkt zu verlagern. Während du zuhörst, notiere zuerst die Kombination der Instrumente und konzentriere dann deine gesamte Aufmerksamkeit auf nur eines der Instrumente, sagen wir den Bass oder eine Gruppe von Instrumenten. Nach einer Minute konzentriere dich auf ein anderes Instrument, etwa das Schlagzeug, und so weiter. Zum Schluss richte deine Aufmerksamkeit auf die gesamte Band oder das Orchester. Dann durchlaufe diese verschiedenen Schwerpunkte noch ein oder zweimal.

Eine andere gute Möglichkeit, den Wechsel von Konzentration zwischen Fokus und breiterer Aufmerksamkeitsspanne im täglichen Leben zu üben, sind Arbeitstreffen. In der nächsten Besprechung, an der du teilnimmst, versuche zwischen der Konzentration auf einen bestimmten Redner oder Zuhörer und dann auf alle Teilnehmer gleichzeitig hin und her zu wechseln. (6)


Fazit

Innere Ruhe ist eng mit Zufriedenheit verbunden. Die Balance aus den unterschiedlichen Zielen und Wünschen, die uns wichtig ist ist eigentliche Lebenskunst.

Es ist nicht leicht, diesen Schritt zu gehen. Ich lasse mich gerne davon ablenken. Möchte ich wirklich ein Leben führen, in dem ich die ganze Zeit bewußt in einer Beobachterrolle bin? In dem ich eher mit meinem Bewusstsein als mit meinen Gedanken und Gefühlen identifiziert bin? Möchte ich wirklich weg davon, der Mittelpunkt meiner Welt zu sein, um den herum eine „Umwelt“ existiert?

Aber ich weiß, dass es die Richtung ist, die ich nehmen will. Diese Auseinandersetzung in mir ist noch nicht beendet.


Ortega y Gasset1 edited

„Der Mensch bewegt sich an Abgründen entlang, und
– ob es ihm gefällt oder nicht –
seine wichtigste Aufgabe ist, das Gleichgewicht zu halten. “

– Ortega y Gasset

Quellen