Vor ein paar Wochen hatte ich ein Aha-Erlebnis. Ihr wisst schon: ein neue Erkenntnis, die ganz viele Auswirkungen hat. Dabei geht es um tadaaaaaa – intellektuelle Bescheidenheit. Es wurde mir klar, wie wichtig dieses Bewusstsein der eigenen Grenzen des Wissens und Verstehens ist. Warum?

Intellektuelle Bescheidenheit ist ein wichtiger und unterschätzter Teil des Kulturwandels
hin zu einer Welt mit mehr zwischenmenschlicher Nähe und Verbundenheit.
Aber der Reihe nach!
Wovon genau sprechen wir:
Menschen unterscheiden sich im Ausmaß, wie sehr sie ihre Wissenlücken wahrnehmen und zu akzeptieren, dass ihre Meinungen und Standpunkte vielleicht nicht richtig sind.
Und es hat Konsequenzen, ob jemand es nicht ertragen kann, wenn andere die Dinge anders sehen oder eine Erweiterung der eigenen Sichtweise spannend findet.
1. Intellektuell bescheidene Menschen wissen mehr
Wenn ich mir einer Sache nicht sicher bin, fühlt sich dass oft für mich so an, als ob andere einfach mehr besser bescheid wüssten. Wenn sie so bestimmt sagen: so ist es.
Spannenderweise ist es wohl andersherum. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Menschen mit viel Wissen eher intellektuell bescheiden sind. Menschen, die selbstsicher behaupten, schon fast alles Wichtige zu wissen, wissen tatsächlich im Vergleich weniger.
Wenn ich eher in der Haltung des Sammelns von Informationen bin, ist es auch interessant zu erfahren, was meiner bisherigen, vorläufigen, Meinung widerspricht. Dadurch wird meine Sichtweise erweitert.
Für mich war das mal ein Grund, Psychologie zu studieren. Ich hatte als Jugendliche, wie das damals in der Luft lag, einige Bücher über Psychoanlayse gelesen. Ich wusste, dass die damaliegen empirischen Psychologen von der Psychoanalyse nicht viel hielten. Und ich wollte wissen, warum und zu welchen Ergebnissen die Empiriker mit ihren Ansätzen kamen.
Das ist eine typische Haltung von Menschen, die sich nicht als „Wissende“ fühlen. Sie gehen eher geistige Herausforderungen an. Und sie glauben nicht, das Wissen etwas mit gottgegebener Intelligenz und Begabung zu tun hat, sondern sich aufbaut und entwickelt. Mit anderen Worten: sie haben im Sinne von Carol Dweck eine wachstumsorientierte Einstellung zum Wissen (Growth Mindset). Deshalb ist das Lerninteresse bei intellektuell bescheidenen Menschen nachweislich höher als bei selbsternannten Durchblickern.
Als ich mein Psychologiediplom dann in Händen hielt, hatte ich verstanden, wo die Kritik der akademischen Psychologie an der Psychoanalyse lag, aber ich hatte kein klares, zusammenhängedes Bild der psychologischen Modelle, sondern viele Puzzleteile. Da liegt natürlich auch ein Anreiz, mit der Zeit zu schauen, welche fehlenden Puzzleteile ich noch finden kann.
Was mir mein Studium mitgegeben hat, ist das Know-How, psychologische Modelle und Aussagen auf ihre Stichhaltigkeit zu hinterfragen zu können. Was sehr hilfreich ist.
Denn Menschen, die glauben, sie wüssten sowieso Bescheid, fallen eher auf falsche Informationen (Fake-News) herein.
Selbstdarstellung ist heute ein kulturelles Ideal
Leider ist intellektuelle Bescheidenheit nicht gerade das Leitbild unserer Gesellschaft. Mehr Ansehen haben nämlich diejenigen, die so tun, als ob sie sich richtig gut auskennen und alles verstehen. Im beruflichen Kontext kann sich sowas richtig auszahlen.
„Wer zugibt, etwas nicht zu wissen, gilt nicht als weiser Philosoph, sondern als intellektueller Schwächling.“
Henning Beck
Knackige Selbstdarstellung ist immer gefordert, wenn es um neue Begegnungen geht, besonders in beruflichen Kontexten. Die meiste Aufmerksamkeit und soziale Akzeptanz erhalten diejenigen, die sich voller Selbstbewusstsein als Wissende oder Experten präsentieren. Die überhebliche Annahme, alles Wesentliche zu wissen, ist häufig gepaart mit der Vorstellung, anderen dadurch überlegen zu sein und entsprechendem Geltungsdrang. Dazu gehört der Anspruch auf eine herausragende gesellschaftliche Stellung.
Unsere Kultur schätzt besonders das Bild des praktisch unbesiegbaren Könners, nicht das Bild eines Menschen, der viele Fragen stellt. Einfache Antworten sind sexy. Fragen nicht.
In den Medien werden Menschen, die zugeben einen Fehler gemacht zu haben, eher abgewertet. Das gleiche gilt, wenn jemand seine Meinung ändert.
Wissen und Kompetenz wird vermarktet und gilt als Ressource. Wer auf den ersten Blick darüber verfügt, erhält Anerkennung und kann in der Gesellschaft aufsteigen. Schaumschlägerei und Großspurigkeit werden honoriert.
Das habe ich immer wieder erlebt.

In meiner Zeit als Personalentwicklerin im Maschinenbau kamen die an der Universität geforderten Relativierungen von psychologischen Aussagen nicht gut an. Ich lernte anstelle von „es sieht so aus als ob“ zu sagen „es ist so“. Das gehörte zu den ungeschriebenen Anforderungen. Besonders an die Führungskräfte.
Diese Bevorzugung der Selbstdarsteller hat aber einen gravierenden Nachteil:
2. Intellektuell bescheidene Menschen sind weniger ausgrenzend und dogmatisch
Klar, wenn ich mich mit einer Meinung positioniere, fällt es schwerer sie zu hinterfragen. als wenn ich von vornherein sage: aus meiner bisherigen Sicht ist es so und ich bin interessiert, mehr darüber zu erfahren.
Wenn ich aber glaube, bereits alles Wichtige zu einer Sache zu wissen, bin ich dogmatisch. Das ist das Gegenteil von Bescheidenheit. Es fällt mir dann schwer, etwas von verschiedenen Seiten zu sehen, gleichzeitig die Vor- und Nachteile von etwas im Blick zu haben.
Menschen mit intellektueller Bescheidenheit haben eher ausgewogene Standpunkte. Das zeigt sich auch bei Meinungsumfragen zu bestimmten Themen, wie ärtzlich assistiertem Suizid oder dem Einfluss der Religion auf die Gesellschaft: intellektuell bescheidene Menschen haben vielfältige Positionen. Sie sind nicht radikal dafür oder dagegen, weder bei der politischen Orientierung, noch bei Einstellungen zu wertorientierten Themen.
Wenn Menschen eine andere Meinung haben zu Dingen, die einem selbst wichtig sind, ist das nicht leicht auszuhalten. Wir alle neigen dann dazu, unsere Gegenspieler abzuwerten, entweder wegen ihres Charakters (oberflächlicher Mensch) oder ihrer Intelligenz (ist einfach zu blöd, um das zu sehen).
Diese Abwertung ist bei intellektuell bescheidenen Menschen weniger ausgeprägt ist als bei dogmatischen. Sie glauben auch weniger an Verschwörungstheorien und Fake-News, wie z.B. dass Chinas Regierung wissentlich das COVID-19-Virus produziert und gestreut habe und sind eher bereit, in sozialen Medien Menschen mit einer ihnen widersprechenden Meinung zu folgen.
Weil in unserer Kultur das Vortragen einer „Wahrheit“ wichtiger ist, als das Vortragen einer begründeten Vermutung, und das Selbstwertgefühl stärkt, vermeiden die Menschen die Auseinandersetzung mit Argumenten, die für eine andere Position sprechen. „Wissen ist Macht“. Die eigene Meinung gilt und muss verteidigt werden. Alles andere ist sowieso Blödsinn.
So entstehen die Blasen und die Abwertung gegenüber Andersdenkenden. In den USA ist das Thema „gesellschaftliche Spaltung“ wichtig in der öffentlichen Diskussion und wird wissenschaftlich beleuchtet.
In zwei US-amerikanischen Studien wurde gezeigt, dass intellektuell bescheidene Menschen weniger starke negative Gefühle wie Wut oder Verachtung gegenüber politischen Gegnern hatten, als eher dogmatische Menschen.
Niemand möchte wachsende Polarisierung in der Gesellschaft. Sie könnte aber eine Folge der Abwertung Andersdenkender sein. Und damit eine Folge der mangelnden Wertschätzung intellektueller Bescheidenheit.
Dabei gibt es gute Gründe, diese Wertschätzung umzudrehen. Geistige Offenheit und Interesse an dem, was andere zu sagen haben, hat nämlich einen schwerwiegenden Vorteil:
3. Intellektuelle Bescheidenheit führt zu mehr zwischenmenschlicher Nähe und Verbundenheit
Wir wissen es alle aus Erfahrung: wie sympathisch finden wir Menschen, die uns die Welt erklären ohne uns nach unserer Sichtweise zu fragen? Ein gutes Gespräch sieht anders aus.
Im Gespräch werden Menschen mit höherer intellektueller Bescheidenheit von anderen als aufgeschlossener, warmherziger und freundlicher wahrgenommen.
Es geht aber nicht nur um die Wirkung im Sinne von Selbstdarstellung im neuen Gewand.
Intellektuell bescheidenere Menschen haben mehr Empathie und Mitgefühl. Sie verhalten sich besonders altruistisch.
Anscheinend gibt es einen Zusammenhang zwischen der zwischenmenschlichen Offenheit und der Offenheit im Denken. Die Art zu denken strahlt auf die soziale Ebene aus. Die Neigung andere abzuwerten zieht eine Grenze zwischen denen, die akzeptabel sind und den anderen.
Wer intellektuell bescheiden ist, findet Machtausübung eher nicht so wichtig. Andere Menschen zu bewerten oder gar zu disziplinieren liegt ihr oder ihm ferner als Menschen, die sich durch kritische Fragen persönlich angegriffen fühlen.

Für mich ist durch die Forschungsergebnisse klargeworden, dass es kein Mangel ist, wenn ich keinen klaren Standpunkt habe. Sondern im Gegenteil eine Chance, besser anderen zuzuhören und ihre Beweggründe zu verstehen. Die Frage ist nicht „bist du für und oder gegen uns“.
Und auch wenn ich eine klare Meinung zu etwas habe und die Dinge anders sehe als meine Gesprächspartner: es ist ein Vorteil mit offenem Geist und offenem Herzen Meinungen zu kritisieren ohne den Menschen abzulehnen, der sie vertritt.
Ich muss meinen Standpunkt nicht durchsetzen.
Diese Haltung fördert zwischenmenschliche Nähe, Beziehungen und Freundschaften. Resonanz kann entstehen.
Wenn wir ein freundliches Miteinander wollen, ist intellektuelle Bescheidenheit also eine gute Idee.
Was du tun kannst, um deine intellektuelle Bescheidenheit zu stärken
Ich finde es nicht ganz einfach, diese Haltung zur Gewohnheit zu machen. Aus der Wissenschaft gibt es zwei erprobte Vorschläge, wie das gehen könnte:
- versuche dich selbst und deine emotionale Reaktion auf eine Information von außen zu betrachten (Self-Distancing). Das verhilft das zu einer „objektiveren“ Sicht auf die Information. Bleibe dabei geduldig mit dir, denn es braucht Übung, bis das wirklich gut klappt.
- denke daran: du brauchst keinen fertigen Standpunkt, bevor du handeln musst. Sammle Informationen und bleibe offen für die Vielfalt der Fakten und Sichtweisen.
Durch diese Haltung verändere ich mich von der für meine Meinung streitenden Jeanne d’Arc hin zu einer Erforscherin meiner Mitwelt. Ich weiß, dass meine Annahmen nur Annahmen sind, die ich erweitern oder verändern kann.
Sogesehen ist meine intellektuelle Bescheidenheit kein Zeichen von Dummheit oder Unterlegenheit. Sie könnte in selbstbewusstes Auftreten integriert werden. Denn ich kann auch selbstbewusst zu meinem aktuellen Wissen, meinen Fragen und meinen Grenzen stehen.
Intellektuelle Bescheidenheit ist auch Selbstfürsorge:
Wenn der Sinn des Lebens darin besteht, seine Kraft und Fähigkeiten für etwas einzusetzen, das größer ist, als man selbst, braucht das auch Bescheidenheit, damit man sich nicht überschätzt und übernimmt. Das bedeutet, man sollte sich bewusst sein, dass die Wahrheit größer ist als das, was der Einzelne weiß. Jeder kennt nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Man kann daher von anderen viel lernen und sollte sie nicht ständig belehren wollen oder seine Meinung um jeden Preis durchdrücken. Das Sinnbild für diese Haltung ist der antike Philosoph Sokrates, der gesagt haben soll: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“
Definition des Philosophen Godehard Brüntrup
Welche Erfahrungen hast du mit intellektueller Bescheidenheit gemacht?
Schreib gerne in den Kommentaren darüber.
Quellen
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Interview von Godehard Brüntrup: „Philosophie-Professor: ‚Ohne Demut wird die Menschheit nicht überleben‘“. FOCUS Online. Zugegriffen 1. April 2022. https://www.focus.de/wissen/mensch/philosophie/philosophie-professor-im-gespraech-ohne-demut-wird-die-menschheit-nicht-ueberleben_id_11640827.html.
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