Aktualisiert am 14. August 2023

Der Zauber des Lichts berührt in der dunklen Jahreszeit viele Menschen. Vielfältige Rituale feiern die Wintersonnenwende, die Hoffnung auf zunehmende Helligkeit und zunehmende Wärme. Sehnsucht nach etwas Neuem, etwas das mehr ist, als das was wir gerade jetzt erleben. Der Wunsch nach Gemeinschaft gehört auch dazu.

Unser Selbstbild ist irreführend

Gerade an den Feiertagen um Weihnachten spüren wir besonders schmerzlich, wenn wir uns einsam fühlen. Wir sehnen uns nach einem Leben, indem es weniger Selbstbezogenheit gibt, weniger Egoismus.

Was, wenn wir einfach ein falsches Verständnis von dem haben, was unser Selbst ausmacht? Genauso, wie wir früher dachten, die Sonne drehe sich um die Erde? Was, wenn eine wesentliche Grundlage der zunehmenden Einsamkeit und der menschengemachten Umwelt- und Klimakatastrophe darin besteht, dass wir eine verkürzte Sicht darauf haben, wer wir sind? Ein Selbstbild, das Relevantes ausblendet?

Fensterbild mit Elisabeth I mit Blick auf einen Park
Photo by Greg Daines on Unsplash

Aus wissenschaftlicher Sicht spricht Einiges dafür. Denn unser Selbstbild ist kulturell geprägt. Seit der Aufklärung wurde in unserer Kultur ein Bild des Individuums immer dominanter, das eine Person gleichsetzt mit ihrem Körper und dem, was darinnen ist. Die Haut als Grenze zwischen mir und dem anderen, das nicht zu mir gehört. Der Umwelt. Jeder Person als Sonnenkönig:in?

Auf dieser Grundlage waren wir als Menschheit sehr erfolgreich in der Analyse. Wir haben uns darin geübt, etwas in Teile zu zerlegen um zu schauen, wie diese Teile zusammenarbeiten. Daraus haben wir wirklich viel gelernt. Dabei haben wir aber eines unterschätzt: die übergreifenden Zusammenhänge. Wie heißt es so schön: das Ganze ist mehr als seine Einzelteile.

Was also macht mein Selbst aus? Bin ich in den Grenzen meiner Haut ein Ganzes? Sicherlich auch: zu mir gehören meine Organe, meine Gedanken, meine Mikroben, mein Blut und mein Personalausweis.

Aber eins ist schon mal klar: autoark bin ich nicht. Ohne Luft, Licht, Wasser und Nahrung für unseren Körper können wir Menschen nicht überleben. Und wir brauchen vertrauensvolle Beziehungen.

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Hubble Spies a Loopy Galaxy, Flickr, CC BY 2.0

Ein Mensch ist ein räumlich und zeitlich beschränktes Stück des Ganzen, was wir „Universum“ nennen. Er erlebt sich und sein Fühlen als abgetrennt gegenüber dem Rest, eine optische Täuschung seines Bewusstseins.

Albert Einstein

Eine andere Vorstellung vom Selbst

Was bedeutet es für mein Selbstbild, wenn ich Teil von etwas Größerem bin? Wenn ich sicher weiß, dass ich ohne dieses Größere nicht der Mensch sein könnte, der ich jetzt bin? Und wenn ich diese Verbindungen, die zu mir gehören, als Teil meines Selbst betrachte?

Damit ist nicht Anpassung gemeint. Es geht nicht darum, unser inneres Selbst aufzugeben oder zurückzustellen, um Teil einer Gruppe zu sein. Es geht darum, unser körpergebundenes Selbst als Teil eines integrierten Selbst in Freiheit zu verstehen. Was wir erleben, fühlen und denken hat seinen eigenen Wert und ist verbunden. So, wie es unseren psychischen Grundbedürfnissen entspricht: Autonomie und Verbundenheit.

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Photo by Mason Dahl on Unsplash

Wir könnten uns als dynamischen Knotenpunkt verstehen, in einem unaufhörlichen Fluss von Information und Energie. Wir sind Teil eines ganzheitlichen Systems mit vielfältigen Zusammenhängen und Wirkungen, vom atomaren Bereich der Quanten, über die biologische, die ökologischen bis hin zu astronomischen Verbindungen. Ohne unsere Mitwelt sind wir nicht denkbar – weder physich noch psychisch. Als Knotenpunkt ist unser „Körper“ und unser „inneres Selbst“ Teil des größeren Ganzen.

Wir sind ein Muster in einem Fluss des Lebens. Ein Muster, das aufsteigt, sich eine Weile hält und sich in ein neues Muster auflöst. Es hängt ab von der Sichtweise, die wir von der Welt haben, den aktuellen subjektiven Empfindungen und Erleben, und der Fähigkeit, durch unser unser Verhalten und unsere Interaktionen Einfluss zu nehmen, zu handeln.

Was wäre, wenn …

Was wäre, wenn wir unser Selbstbild an die heute wissenschaftlich plausible Sicht anpassen würden: wir sind ein lebendiges System, in das andere lebendige Systeme eingebettet sind und das selbst zu größeren Systemen gehört? Wenn zu dem, was wir sind, unser körperliches Sein und die unendliche Anzahl der Verbindungen und Beziehungen zur Mitwelt gleichermaßen dazugehören? Wir eben nicht isoliert existieren, sondern immer schon Teil von etwas Größerem sind?

Wie würde ein integriertes Selbstbild die Art verändern, wie wir fühlen, handeln, wirtschaften? Würden wir dann mehr berücksichtigen, was um uns herum ist und passiert?

Ich glaube schon. Das kulturell vermittelte Bild des für sich stehenden Individuums ist eine wichtige Grundlage für Einsamkeits- und Mangelgefühle, für Egoismus, Aggression und den katastrophalen Umgang mit der Natur, auf die wir eigentlich angewiesen sind.

Selbstbild und Geschichten vom Solo-Selbst sind heute fest in unserem Gehirn verankert und bestimmen unsere Weltsicht, unsere Gefühle, Werte und Reaktionsweisen. So sehr, wie vor einiger Zeit das Bild und die Geschichten über Himmel, Hölle und notwendigen Gehorsam. Es ist die überall erzählte Geschichte unserer Zeit.

Aber sie ist nicht wahr. Denn wir sind nicht von unserer Umwelt isoliert, sondern Teil unserer Mitwelt.

Es erfordert innere Offenheit, Mut und Neugier dieses neue, integrierte Selbstbild an sich heranzulassen. Denn unser Gehirn ist auf die Vermeidung von Unsicherheit eingestellt. Eine statische, hübsch abgegrenzte Welt voller festgelegter Zuschreibungen vermittelt Sicherheit. Eine flexible, dynamisch-lebendige Welt eher nicht.

Aber sie könnte spannender sein und liebevoller. Sie würde uns aus Gefühlen der Isolation und des uns beweisen Müssens herausholen. Wie Daniel Siegel schreibt:

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Die Erweiterung unseres Zugehörigkeitsgefühls, die Ausweitung unserer Identität, die Befähigung zu einer Selbsterfahrung, die über den Körper und sogar über unsere persönlichen Beziehungen und Überzeugungen hinausgeht, und die Zugehörigkeit zu „etwas Größerem“, das uns miteinander als Menschheit, mit der Natur und mit der Realität des Universums verbindet, sind sowohl möglich als auch nützlich.

Daniel Siegel

Der Weg dorthin wird eröffnet durch offene Wahrnehmung und Wertschätzung, Achtsamkeit, Dankbarkeit und Ehrfurcht vor dem Lebendigen. Auch in schwierigen Zeiten.

Weihnachten ist, wie alle winterlichen Lichterfeste, das Fest des Geheimnisses und der Hoffnung auf das Neue, das sich entfalten wird. Lassen wir die Faszination des Lebendigen zu. Öffnen wir unser Selbstbild für die Realität.


Albert Einstein

„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht wundern, nicht mehr staunen kann, der ist sozusagen tot und sein Auge erloschen.“

Albert Einstein

Quellen

Damasio, Antonio R. _Wie wir denken, wie wir fühlen: die Ursprünge unseres Bewusstseins_. Übersetzt von Sebastian Vogel. 1. Auflage. München: Carl Hanser Verlag, 2021.

Göpel, Maja. _Wir können auch anders_. Berlin: Ullstein, 2022

Siegel, Daniel J. _IntraConnected: MWe (Me + We) As the Integration of Self, Identity, and Belonging_. Norton & Company, Incorporated, W. W, 2022